Systemische Psychotherapie: ein Praxisbeispiel
Systemisches Stellen schafft neue Lebensqualität
Seit einem Jahr bin ich inzwischen angstfrei, schrieb mir Carina S. (Name geändert) begeistert und schilderte mir ihre neue Lebensqualität: beim Autofahren musste sie nicht länger Tunnel meiden. In der S-Bahn konnte sie sich nach einigen Therapiestunden systemischen Stellens hinsetzen, ohne sich angstvoll in Nähe der Tür festhalten zu müssen. Sie konnte wieder sorgenfrei in den Winterurlaub fahren, ohne bei der Planung ihrer Skiabfahrten darauf achten zu müssen, Gondeln zu vermeiden. Gegen Ende einer einjährigen systemischen Therapie war es für sie ein gewaltiger Fortschritt gewesen, sogar während der U-Bahnfahrt entspannt Zeitung lesen zu können. Durch unsere Aufstellungsarbeit war sukzessiv ihre Platzangst weniger geworden, bis sie sich eines Tages völlig frei davon fühlte.
Klaustrophobie oder Platzangst: Aufstellen von Komplikationen bei der Geburt
Erst die Aufstellungsarbeit brachte es ans Licht: ihre tief sitzenden Ängste standen im Zusammenhang mit einer schwierigen komplikationsreichen Geburt. Zwar war das Wissen um ihren schweren Start ins Leben keineswegs neu für Carina S. gewesen, aber den Zusammenhang mit ihren Ängsten hatte sie nie vermutet. Darüber hinaus holte die psychotherapeutische Begleitung noch weitere Einflüsse ans Licht. Oft ist erkennbar, dass es für ein Symptom mehrere Gründe geben kann. Manchmal reicht es, einen Grund zu erkennen, um das Symptom zu reduzieren oder gar Symptom los zu werden. Manchmal aber bedarf es weiterer Bearbeitung des Themas in Form von Aufstellen, wenn sich noch andere Ursachen zeigen möchten.
Systemische Verstrickung als Ursache für Ängste
Im Falle von Carina S. zeigte sich durch das Familienstellen, dass durch ihre Ängste eine unbewusste Verstrickung mit ihrem Großvater bestand, welcher im Krieg als Kind in einem Luftschutzkeller verschüttet und schwer verletzt an Leib und Seele aus den Trümmern geborgen worden war. Jede vergleichbare Erfahrung von möglichem oder tatsächlichem Eingeengt-Werden wie bei Klaustrophobie oder Platzangst hatte in ihr – interessanterweise, seit sie in das Alter gekommen war, in welchem ihr Großvater als Kind sein Trauma erfahren hatte, – Todesängste ausgelöst. Wie die Erfahrung zeigt, können sich Gefühle, die mit einem schweren Schicksal eines Familienmitglieds verbunden sind, innerhalb eines Familiensystems auf ein anderes, nachfolgendes Familienmitglied übertragen, welches durch dieses Gefühl unbewusst in Liebe und Treue mit dem Schicksal des älteren verbunden ist (systemische Verstrickung).
Systemische Psychotherapie: Familienstellen kann unbewussten Schmerz lösen
Erst durch gezieltes Nachfragen bei ihrem Vater erhielt Carina S. Gewissheit über das Kinder-Kriegsschicksal des Großvaters, welches sich in der systemischen Arbeit mit Familienstellen (systemische Psychotherapie) zunächst nur schemenhaft angedeutet hatte. In der Familie war darüber nie gesprochen worden. Das Tabuisieren von Familienthemen ist meist mit einem großen Schmerz verbunden, der als unerträglich empfunden wird und dem man dadurch zu entkommen versucht, indem schlimme Ereignisse totgeschwiegen werden. Im Fall von Carinas Großvater war es nicht nur der Schmerz und die Todesangst darüber, verschüttet worden zu sein, sondern darüber hinaus hatte er bei diesem Fliegerangriff seine Mutter verloren und sich seinem Schmerz darüber nicht stellen können.
Indem Carina S. einem Foto ihrer Urgroßeltern einen Platz in ihrer Wohnung gab, ehrte sie in bewusster Verbundenheit ihre Ahnen und ihr Schicksal. Es brauchte keine Ängste mehr, um sich ihnen unbewusst verbunden zu fühlen.